Das Ideal zeitgemässer Strassen: Chausseen und Kunststrassen

Wer um 1800 von einer guten Strasse sprach, hatte eine «Chaussee» respektive eine «Kunststrasse» vor Augen. Beide Begriffe bezogen sich auf den gleichen Strassentyp.[1] In den französischen Quellen wurden «chaussée» und «grande route» mindestens teilweise synonym verwendet, indem Grande Route zunehmend auch die bautechnischen Merkmale der Chaussee implizierte. Chaussee und Kunststrasse sind Fachbegriffe ihrer Zeit. Chausseen wurden die Strassen des 18. Jahrhunderts genannt, deren Bauprinzip im absolutistischen Frankreich entwickelt worden war. Der Begriff der Kunststrasse kam erst im 19. Jahrhundert auf. Dieses Nacheinander steht für die Tradition, in welcher der Strassenbau stand. Zunächst bezog man das Know-how aus Frankreich, während im 19. Jahrhundert vermehrt auch deutsche Lehrbücher und Ausbildungsstätten massgebend wurden.[2] Nach Heinrich Freiherr von Pechmanns «Anleitung zum Bau und zur Erhaltung der Haupt- und Vicinal-Strassen» aus dem Jahr 1822,[3] die in der Schweiz ein wichtiges Referenzwerk wurde,[4] war «eine Kunststrasse […] ein nach bestimmten aus Theorie und Erfahrung abgeleiteten Regeln gebauter dauerhafter Weg, bestimmt, um auf demselben Lasten mit dem möglichst geringen Zeit- und Kraft-Aufwande fortzubringen».[5]

Die Chausseen und Kunststrassen ersetzten die alten, kurvenreichen Landstrassen. Ihre bauliche Konstruktion war vorgegeben durch einen möglichst direkten Verlauf, gleichmässige Steigungen, die keinen zusätzlichen Vorspann von Zugtieren mehr erforderte, die Ableitung des Wassers von der Strasse und eine kompakte, regelmässige Oberfläche, die den Felgendruck so aufnahm, dass sie nicht einbrach.[6] Der Zustand der Strassen war von sehr unterschiedlichen Faktoren abhängig: von der Qualität des für den Bau und den Unterhalt verwendeten Materials, in starkem Masse von den technischen und verwaltungsorganisatorischen Kenntnissen der Ingenieure, der Organisation der Bau- und Unterhaltsarbeiten, der Verkehrsfrequenzen, dem Gewicht der Fuhrwerke und der Jahreszeit.

Eine der wichtigsten Neuerungen war nur am Rande technisch: Die Strasse sollte als Ganzes, nach einheitlichen Kriterien, Techniken und Lösungen geplant und realisiert werden. Schon Friederich Zehender wies 1740 in seinem «Memoriale»[7] die Berner Obrigkeit darauf hin, dass der Kunststrassenbau nicht allein ein technisches Problem der Konstruktion, sondern Gegenstand des konsequenten Staatsvollzugs, der Finanzierung, der Gesetzgebung, der Bildung von Fachkompetenzen, der Verwaltungsorganisation, der Verkehrsregelung und des konsequenten Unterhalts sei. Die Chaussee erscheint so nicht nur als Ingenieurbaute, sondern als Staatsprinzip und als neue Raumordnung, für die einerseits die grösseren Distanzen und andererseits eine Hierarchisierung und Klassifizierung der Verbindungen kennzeichnend wurden.[8]

(Zum bernischen Chausseebau, siehe auch Kantonsdossier Bern, Unterkapitel «Von der Reuss bis an den Genfersee – Verkehr und Strasseninfrastruktur im 18. Jahrhundert».)

Tafel 7 aus dem Werk von Jean Samuel Guisan[9] über den Strassenunterhalt und den Strassenbau. Im Bild sind die wichtigen baulichen Elemente der Chausséen, das steinerne Strassenbett, der gewölbte Aufbau und der Wasserabzug entlang der Chaussee.

Tafel 1 aus dem Werk von Jean Samuel Guisan. Gleichmässige Steigungen, die keinen Vorspann zusätzlicher Zugtiere erforderten, waren ein wichtiges Ziel des Chausseebaus.

Zeitgenössische Fachliteratur zum Strassenbau aus dem 18. und 19. Jahrhundert – eine Auswahl

Exchaquet, Abram Henri. Dictionnaire des ponts et chaussées, Lausanne et Paris 1787.

Frey, Johann Jakob. Kurze und vollständige Anleitung zur Landwirthschaft, Forstwesen, Strassen- und Strombau, Zug 1825.

Frey, Johann Jakob. Anleitung über das Forstwesen, Strassenbau und Flussbau, Zug 1825.

Frey, Johann Jakob. Taschenbuch für Schweizerische Ingenieurs beim Strassen- und Wasserbau, für den Besitzer von Wasserwerken und für Forstbeamte und Gemeindsvorsteher, Zürich 1838.

Gautier, Hubert. Tractat von der Anlegung und dem Bau der Wege und Stadtstrassen, Übersetzung Leipzig 1759 [Original: Traité de la construction des chemins, Paris 1693].

Guisan, J[ean] S[amuel]. Bemerkungen über Erbauung, Verbesserung und Unterhaltung der Wege vorzüglich der Nebenwege. Den Landbauern Helvetiens gewidmet, Bern 1800.
Franz. Original: Observations sur la construction, l’entretien e l’amélioration des chemins, notamment de ceux de traverse, 1800.

Haldimann, Franz Ludwig. Versuch einer Anweisung zur Anlegung der Landstrassen, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt, Jg. 3, Bern: Oekonomische Gesellschaft 1762, 63–99.

Launhardt. Die Steigungsverhältnisse der Strassen. Separatabdruck aus der Zeitschrift des Architekten- und Ingenieur-Vereins zu Hannover, Jahrgang 1880, Heft 3, Hannover 1880.

McAdam, John Loudon. Practical essay on the scientific repair and preservation of public roads, London 1819.

McAdam, John Loudon. Remarks on the present System of Road Making, third edition, London 1820.

Pechmann, Heinrich Freiherr von. Anleitung zum Bau und zur Erhaltung der Haupt- und Vicinal-Strassen, München 1822.

Trésaguet, Pierre-Marie-Jérôme. Mémoire sur la construction et l’entretien des chemins de la généralité de Limoges, 1775, publiziert in: Annales des Ponts et Chaussées, 1er série, Mémoires et Documents, Paris 1831, 243–256.

Umpfenbach, Franz Anton. Theorie des Neubaues, der Herstellung und Unterhaltung der Kunststrassen, Berlin 1830.

Wesermann, Heinrich Moritz. Handbuch für den Strassen- und Brückenbau, Düsseldorf 1830.

Zehender Friederich, Gabriel. Memoriale über die Construction, Reparation und Conservation der hohen Land-Strassen, [Bern 1740].

 

[1] Abschnitt teilweise wörtlich aus Schiedt, Hans-Ulrich. Die Entwicklung der Strasseninfrastruktur in der Schweiz zwischen 1740 und 1910, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1/2007, Berlin 2007, 39–54, zit. 40.

[2] Im Zusammenhang mit dieser Umorientierung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sind im schweizerischen Kontext drei Werke zu nennen: Pechmann, Heinrich Freiherr von. Anleitung zum Bau und zur Erhaltung der Haupt- und Vicinal-Strassen, München 1822; Umpfenbach, Franz Anton. Theorie des Neubaues, der Herstellung und Unterhaltung der Kunststrassen, Berlin 1830; Wesermann, Heinrich Moritz. Handbuch für den Strassen- und Brückenbau, Düsseldorf 1830.

[3] Pechmann, Heinrich Freiherr von. Anleitung zum Bau und zur Erhaltung der Haupt- und Vicinal-Strassen, München 1822, 9ff.

[4] Bissegger, Paul. Entretien des routes vaudoises durant la première moitié du XIXe siècle, in: Wege und Geschichte 2, 2005, 12–15.

[5] Pechmann, Heinrich Freiherr von. Anleitung zum Bau und zur Erhaltung der Haupt- und Vicinal-Strassen, München 1822, 9.

[6] Zur Entwicklung der Strassenbautechnik siehe Von Kaven, A. Vorträge über Ingenieur-Wissenschaften an der polytechnischen Schule zu Hannover. Abteilung 1. Der Wegebau, Hannover 1862. Einen populären neueren Überblick bietet Lay, Maxwell G. Die Geschichte der Strasse. Vom Trampelpfad zur Autobahn, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994. Für die Schweiz vgl. Bissegger, Paul. Le rouleau compresseur, une innovation du XIXe siècle en génie civil, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 40, 1990, 361–381.

[7] Zehender, Friederich Gabriel. Memoriale über die Construction, Reparation und Conservation der hohen Land-Strassen, [Bern 1740], Stadt- und Universitätsbibliothek Bern, Sig.: H XXIV 257.

[8] Vgl. Barraud Wiener, Christine; Simonett, Jürg. Zum Bau der «Kunststrassen» im 18. und 19. Jahrhundert: Die Disziplinierung von Landschaft und Bevölkerung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 40, Basel 1990, 415–433.

[9] Guisan, J[ean] S[amuel]. Bemerkungen über Erbauung, Verbesserung und Unterhaltung der Wege vorzüglich der Nebenwege. Den Landbauern Helvetiens gewidmet, Bern 1800; französisches Original: Observations sur la construction, l’entretien e l’amélioration des chemins, notamment de ceux de traverse, 1800.