Die Helvetische Republik

Die 1798 proklamierte und bis 1803 bestehende Helvetische Republik ist aus der Krise der alten Eidgenossenschaft heraus entstanden. Das noch auf das Spätmittelalter zurückgehende Bündnisgeflecht und die föderalistische Organisation der alten Eidgenossenschaft hatten die Durchführung von politischen und wirtschaftlichen Reformen in unterschiedlichem Masse behindert und vor allem die Schaffung zentraler Institutionen verunmöglicht.[1] Gleichzeitig wirkten die Französische Revolution von 1789 sowie die von ihr ausgelöste zuerst revolutionäre, dann auch machtpolitische Dynamik prägend und in ihren weiteren Folgen zwingend auf den Zerfall der alten Eidgenossenschaft und auf die Proklamation und Entwicklung der Helvetischen Republik. Ersterer begann anfangs des Jahres 1798 mit zunächst kaum koordinierten revolutionären Bewegungen in Basel, in der Waadt, in Freiburg oder im Oberwalis. Danach breiteten sich die Revolutions- und Reformbestrebungen schnell aus.

Ein entscheidender Punkt war das militärische Eingreifen Frankreichs, in dessen direktem Zusammenhang  am 12. April 1798 die Helvetische Republik als nationaler Einheitsstaat proklamiert und die neue Verfassung beschlossen wurde. Die französische Armee blieb in der Folge ihr «Rückgrat» und ihr «wichtigster Ordnungsfaktor».[2] Aus der französischen militärischen Präsenz folgte der alles erschwerende und kompromittierende Umstand, dass die junge Republik im Vorfeld und während des Zweiten Koalitionskriegs zum Operationsgebiet der europäischen Mächte wurde. Das belastete das helvetische Projekt stark und verhinderte namentlich die Stabilisierung der Verhältnisse und den Aufbau einer neuen finanziellen Basis für die Reformen.

Der Umbruch mit dem Ziel eines helvetischen Zentralstaats wies teilweise revolutionären Charakter auf. Das betraf die Dynamik der Ereignisse selbst sowie etwa die Beschlüsse zur staatlichen Verfassung, zur territorialen Neuaufteilung, zur Aufhebung der Grundlasten oder zur Rechtsgleichheit der Bürger. Es bestanden aber auch bemerkenswerte reformabsolutistische Kontinuitäten.[3] So gründete die neue Republik personell und ideell stark im Reformdiskurs des ausgehenden Ancien Régime, was hinsichtlich des Strassenwesens in den Plänen zur wirtschaftspolitischen Rationalisierung der Raumbezüge sowie in der Modernisierung der Verwaltung augenfällig ist.[4]

Der Zusammenbruch der alten Ordnung, die neue zentralstaatliche Verfassung, der Krieg sowie nicht weniger als vier Staatsstreiche, alle diese Umstände lassen sich auch in den Strassenakten verfolgen. Die Geschichte der geplanten Strassenreform ist von ihrem Ende her denn auch schnell erzählt: sie scheiterte in den ersten Anfängen. Die Strassen waren am Ende der Helvetischen Republik nicht besser, sondern, glaubt man den vielen, in Folianten zusammengebundenen Klagen, schlechter als zuvor. Die «nachholende Fundamentalmodernisierung»[5] scheiterte im Strassenwesen fürs erste umso unausweichlicher und gründlicher, als ruhige, geordnete, stete und verfahrenssicher vorangetriebene Prozesse die Grundlage des Erfolgs jeglicher Infrastrukturprojekte gewesen wären. All dies hatte die Zeit der Helvetik nicht zu bieten.

Es ist darum erklärungsbedürftig, warum wir die Bemühungen um eine Reform der Strassenverwaltung um 1800 als gute, ja als einmalige Möglichkeit sehen, um einen Einblick in das damalige Strassenwesen zu erhalten. Der wichtigste Grund dazu liegt in der umfangreichen Aktenproduktion der helvetischen Akteure, in jener forcierten Schriftlichkeit und in jenem Ringen um rationale Verwaltungsgrundlagen, die die Helvetik auszeichneten. In den zahlreichen Dokumenten der bewusst erlebten, gestalteten oder auch nur reflektierten Umbruchszeit treten die Strassen- und Verkehrsverhältnisse als Bestandsaufnahmen der damaligen Gegenwart, als Bezüge auf das Ancien Régime und in Plänen für die Zukunft hervor.

Die Begriffe Staat und Nation in den helvetischen Quellen

In den Dokumenten der helvetischen Regierung und Verwaltung sind die Begriffe Staat und Nation zahlreich.[6] Das erstaunt nicht angesichts der damals immer wieder beschworenen, in der Verfassung verankerten «unteilbaren nationalen Einheit und der gleichmässigen staatlichen Integration aller Gebiete». Das «Institutionengefüge des neuen Staates» war «konsequent auf die Stärkung der Staatsgewalt» ausgerichtet.[7]

Der Quellenbegriff Staat bezog sich in den helvetischen Quellen der Strassenverwaltung retrospektiv auf die einzelnen Stände der alten Eidgenossenschaft, aktuell auf die helvetischen Kantone (trotz des Umstands, dass diese nun nur noch Verwaltungseinheiten waren) sowie natürlich auf die politisch-administrative Einheit der Helvetischen Republik. Der erste «Hauptgrundsatz» der helvetischen Verfassung vom 12. April 1798 lautete: «Die helvetische Republik macht einen unzertheilbaren Staat aus.»[8]

In der Verwendung von Nation und national schwingen unterschiedliche explizite und implizite Konnotationen mit:

  1. als Synonym von Staat respektive staatlich, jedoch nur die oberste, helvetische Ebene betreffend,
  2. als Geltungs- und Bestimmungsanspruch der Zentralregierung respektive der Zentralverwaltung,
  3. als die Helvetische Republik oder als das Land betreffend, was auch die Vorstellung eines Territoriums implizierte,
  4. als eine positiv gewertete Zusammengehörigkeit,
  5. als Unterstellung von Volks- und/oder Landeseigenschaften.[9]

Die Helvetische Republik löste unterschiedliche vor- und frühstaatliche Herrschaften ab und sie wurde ihrerseits eine Übergangsform oder allenfalls eine Etappe im säkularen Prozess von den Familien- und Standesherrschaften zur Staatlichkeit modernen Zuschnitts, die sich durch bürokratische Verwaltungsstrukturen und Verwaltungsverfahren auszeichnete. Diesen Übergang beschreibt Rudolf Braun, indem er sich auf Max Webers idealtypische «legale Herrschaft» stützt. Elemente waren etwa die Abschaffung des «Eigenbesitzes der sachlichen Verwaltungs- und Beschaffungsmittel», ein regelmässiges Gehalt der Funktionsträger, die Rechnungspflicht, die Fachqualifikation als Voraussetzung der Stellenbesetzung, die damit verbundene Frage entsprechender Ausbildungsgänge, die arbeitsteilige Strukturierung der Verwaltung, institutionalisierte Entscheidungs- und Kontrollverfahren, ein wachsendes Eindringen von Expertenwissen, die Vereinheitlichung von Sonderrechten und Regelungen, die Zentralisierung und die Trennung von Regierung und Verwaltung.[10] Alle genannten Elemente waren auch Anliegen der helvetischen Strassenverwaltung, ohne dass sich diese damals schon strukturell verfestigt hätten und zu routinierter Selbstverständlichkeit geworden wären. In dieser Situation war das Sprechen vom Staat und noch stärker das Sprechen von der Nation vor allem auch programmatischer und teleologischer Impetus in der Entwicklung, die von Mitte des 18. Jahrhunderts bis weit ins 19. Jahrhundert dauerte und aus dem die Helvetik wohl durch ihre weitgehenden Zielsetzungen, aber auch durch die Grösse ihrer diesbezüglichen Vollzugsprobleme hervorragt.

Aus den überlieferten Kontexten der Reformprozesse des ausgehenden Ancien Régime und der Helvetischen Republik wird deutlich, dass es sich um 1800 erst um Anfänge der Herausbildung einer Staatlichkeit als politisch-administrative Einheit und eines darauf absetzenden Nationalbewusstseins handeln konnte.



[1] Diese Skizze stützt sich auf: Holenstein, André. Beschleunigung und Stillstand. Spätes Ancien Régime und Helvetik (1712–1802/03), in: Kreis, Georg (Hg.). Die Geschichte der Schweiz, Basel 2014, 310–361, zur Krise des Ancien Régime 339–351, und auf: Würgler, Andreas. Epilog: Ende und Anfang – Kontinuität und Diskontinuität im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Holenstein, André (Hg.). Berns goldene Zeit, Bern 2008, 558–563.

[2] Holenstein 2014, 357.

[3] Vgl. dazu Holenstein, André. Die Helvetik als reformabsolutistische Republik, in: Schläppi, Daniel (Hg.). Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, Basel 2009, 83–104.

[4] Zur Frage von Kontinuität und Diskontinuität vgl. Würgler, Andreas. Epilog: Ende und Anfang – Kontinuität und Diskontinuität im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Holenstein 2008, 558–563.

[5] Holenstein, André. Beschleunigung und Stillstand. Spätes Ancien Régime und Helvetik (1712–1802/03), in: Kreis, Georg (Hg.). Die Geschichte der Schweiz, Basel 2014, 310–361, 354.

[6] In der bernischen Antwort zur Vernehmlassung vom 15. September 1800 verwendete von Fellenberg den Begriff Staat zwölfmal. Dabei bezog er sich sowohl auf die alten Verhältnisse als auch auch auf die Situation, die durch die Veränderung der überkommenen Verhältnisse entstehen würde. In der Antwort des Kantons Léman erscheint der Begriff état elfmal.

[7] Holenstein 2014, 355.

[8] ASHR 1, Nr. 2, 566–603, 567.

[9] Zur bisherigen «gelehrten Konstruktion des schweizerischen Nationalcharakters», vgl. Holenstein, André. Beschleunigung und Stillstand. Spätes Ancien Régime und Helvetik (1712–1802/03), in: Kreis, Georg (Hg.). Die Geschichte der Schweiz, Basel 2014, 310–361, 335. Holenstein betont die Gleichzeitigkeit des Nationendiskurses «mit einer nie zuvor erreichten wirtschaftlich-kommerziellen und kulturell-wissenschaftlichen Verflechtung mit Europa». Zum Thema vgl. auch Holenstein, André et al. (Hg.) Politische, gelehrte und imaginierte Schweiz. Kohäsion und Disparität im Corpus helveticum des 18. Jahrhunderts, Genf 2019.

[10] Braun, Rudolf. Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1984, 211–255. Braun stützt sich in seiner Aufzählung auf Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft [1. Aufl. 1922], Tübingen 1980, S. 125–130. Vgl. dazu auch Schiedt, Hans-Ulrich. Die Entwicklung der Strasseninfrastruktur in der Schweiz zwischen 1740 und 1910, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1/2007, 39–54.